Orang-Utan
Wir sitzen im Affenhaus auf der Bank und rauchen eine Zigarette mit der Tierpflegerin. Es ist 9:15 Uhr, ein Orang-Utan gähnt, einer döst in der Hängematte, ein anderer hängt am Seil (statt Liane), elf insgesamt. Ein paar große, ein paar kleine, ein halbstarker. Der halbstarke beobachtet mich.
Zwischen uns sind orang-utan-sichere Glasscheiben, ein Gitter und fünf Meter.
„Müssen wir noch irgendwas wissen, bevor wir zu ihnen reingehen?“,
frage ich die Pflegerin.
„Nein“, sagt sie. „Einfach nur ruhig verhalten.“
Meine Taschen hatte ich bereits ausgekehrt und auch das Amulett vom Hals genommen. Armbanduhr, Gürtelschnalle, Schnürbänder, alles was Orang-Utans mir klauen könnten, lag neben mir. Und was mach ich mit dem Hörgerät? Ich nahm es heraus, besann mich und steckte es ins Ohr zurück. Ins rechte. Der halbstarke beobachtete mich.
Er war dann der Erste, der bei mir war, als wir den Käfig betraten und als erstes griff er mir ans rechte Ohr. Er schaffte es aber nicht, das Hörgerät abzupflücken, ich glaube ich kam ihm um zwei bis drei Zehntelsekunden zuvor. Und, klatsch, hatte ich seine Zunge im Hörkanal.
Wie fühlt sich eine Orang-Utan-Zunge an? Im Ohr? Nicht unangenehm. Wie nasses Leder, wie ein Tuch, mit dem man Windschutzscheiben schrubbt.
Die Pflegerin wollte Einhalt gebieten, aber der halbstarke Menschenaffe war nicht von mir wegzukriegen.
Aggression oder Spielerei?
Aggression. Die Pflegerin sperrte ihn in den Nachbarkäfig, die großen Affen gleich mit, und wir waren mit den kleineren allein.
Fünf und sieben Jahre alt und sie mochten mich. Einer umklammerte meine Beine, einer meine Brust.
Mehr
In Windeseile filzten sie meine Taschen, in denen sie nichts fanden, und als der Orang, der an meinem Bein hing, mitbekam, dass ich sogar die Schnürsenkel abgelegt hatte, begann er mit den Fäusten auf meine Schuhe zu schlagen. Nicht böse, nicht so, dass es wehtat, eher rhythmisch, musikalisch. Ich weiß auch nicht, warum er es machte. Der andere küsste mich.
Nein, stimmt nicht, es war kein Kuss. Er wollte Nahrung mit mir teilen.
Was ich von den Orangs lernte? Schwer zu sagen. Auch für die Tierpflegerin.
Dass sie so direkt sind. Dass sie so rangehen. Dass sie keine Distanz akzeptieren, wenn sie jemanden kennenlernen wollen. Dass sie jedes Gefühl sofort mit den Muskeln umsetzen. Dass ihre Augen Brunnen der Neugierde sind. Sie sind die menschenähnlichsten Großaffen überhaupt. Rund 90 Prozent ihrer Gene sind mit unseren identisch, sie haben die gleiche Anzahl von Rippen und Wirbeln und fast das gleiche Blut. Sie werden im gleichen Alter geschlechtsreif und sie tragen neun Monate aus. Von allen Tieren auf diesem Planeten stehen sie uns am nächsten, und ich denke, das ist es, was die Faszination ausmacht.
Wir erkennen uns. Wir erkennen den Menschen im Affen, sie erkennen den Affen im Menschen.
Die halbe Stunde mit den Orang-Utans hat mich ein bisschen nachdenklich gemacht. Und ein bisschen nackt. Sie haben mir die Hose bis zu den Knien heruntergezogen, die lieben Kleinen, und mein Hemd total entknöpft. Das war ein aufregender Morgen bei Hagenbeck.
Porträt und Reportage Fotograf
Korrektorat:
Nadia Ratti, Bastian Exner
und Anna Staudacher
Vielen Dank an
Wolfgang Neumann / Solibro Verlag